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Titel
Der Liber Ordinarius. Die Grundlage für die Liturgie des Deutschen Ordens im Mittelalter


Herausgeber
Löffler, Anette
Reihe
Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens
Anzahl Seiten
604 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tillmann Lohse, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Als um 1250 das älteste für uns greifbare Ordensbuch der Deutschritter redigiert wurde, inserierte man in die so genannten Gesetze auch einen älteren Kapitelsbeschluss “Über die Gleichförmigkeit des Stundengebets”. Die von der Forschung bislang kaum beachtete Vorschrift lautete: “Im gesamten Orden ist auf die Gleichförmigkeit des Stundengebets zu achten. Damit sie bequem erfüllt werden kann, wollen wir, dass die von uns Ordinarien genannten Verzeichnisse für die nächtlichen und die täglichen Gebetszeiten, deren Art und Weise von den Brüdern unter Fortlassung alles Fremden bei der Ausführung des Gottesdienstes (...) nachgeahmt werden soll, in jedem einzelnen Ordenshaus aufbewahrt werden.”1

Wie alle geistlichen Ritterorden hatten sich auch die Deutschherren seit ihrer Konstituierung zu Stundengebeten und Messfeiern versammelt. Der rund fünfzig Jahre später erhobene Anspruch, durch eine musterhafte und überall verfügbare Liturgieordnung den Gottesdienst innerhalb des gesamten Ordens so weit wie möglich zu vereinheitlichen, findet bei anderen Ritterorden jedoch keine Parallele. Während von den Johannitern vergleichbare Normen gänzlich unbekannt sind2, legte die Templer-Regel lediglich fest, dass sich jeder Ordensbruder beim Gottesdienst nach den Vorschriften des Hauses und nostre ordinaires richten solle.3 Auch die Templer bedienten sich also eines “Ordinarius” genannten Regiebuchs für den Gottesdienst, von dem mehrere Exemplare im Umlauf waren. Sie verlangten aber nicht ausdrücklich, dass jede Ordensniederlassung eine solche Handschrift besitzen müsse. Diesen Schritt gingen allein die Deutschherren, und zwar unter dem Einfluss der Predigerbrüder, die sich ihrerseits an den Prämonstratensern orientierten.4 Den Anstoß hierfür gab wahrscheinlich die Übernahme der dominikanischen Stundenliturgie im Jahre 1244, mit der der skandalösen Unkenntnis der Priesterbrüder des Deutschen Ordens abgeholfen werden sollte.5

Bislang war sich die historische Forschung recht sicher, dass das Stundengebet der Kanoniker im “tatsächlichen Lebensvollzug” der Deutschritter keine prominente Rolle spielte.6 Diese Einschätzung beruht aber womöglich nicht nur auf einem allzu oberflächlichen Vergleich der Ordensstatuten, sondern auch auf der Unkenntnis einer Quelle, die nach jahrzehntelangen Vorarbeiten nun endlich in einer magistralen Edition vorliegt: des Liber ordinarius fratrum Teutonicorum. Genau genommen handelt es sich bei diesem Textkorpus um zwei einander ergänzende Regelwerke (nämlich ein Ordinarium officii und ein Ordinarium missae), die ab 1335/41 zusammenfassend als notula bzw. nottelen bezeichnet und noch vor 1400 um eine correctio ergänzt wurden. Von den beiden Ordinarien sind heute nur noch zwei vollständige Exemplare aus dem 13. bzw. 14. Jahrhundert bekannt (vgl. S. 15–21); dokumentarische Quellen legen aber ihr einstiges Vorhandensein in jedem einzelnen Ordenshaus nahe (vgl. S. 14f.). Die systematischen und fortlaufend ergänzten Sammlungen von "Korrekturen" sind vergleichsweise breiter überliefert, nicht zuletzt weil sie auch in die verschiedenen um 1500 gedruckten Breviere des Ordens inseriert wurden (vgl. S. 18 u. 23–32).

“Aufgrund Alter, Umfang und Vollständigkeit” legt Löffler ihrer Edition den Codex HB I 156 der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart, als Leithandschrift zugrunde (S. 19). Dabei werden nicht nur die Verbesserungen des anlegenden Schreibers sowie die zeitgenössischen Ergänzungen, sondern auch alle jüngeren Nachträge im Haupttext wiedergegeben (vgl. z.B. S. 238, Anm. 2190; S. 140, Anm. 583; S. 240, Anm. 2231). Offenkundig fehlerhafte Wörter verbessert Löffler konsequent, allerdings ohne expliziten Rekurs auf die übrige Überlieferung (z.B. S. 110, Anm. 66; S. 114, Anm. 108; S. 116, Anm. 139 u. ö.). Nur ganz selten erscheinen einzelne, besonders rigide normalisierende Abweichungen vom Text der Leithandschrift diskutabel (z.B. S. 111, Anm. 72). Der textkritische Apparat lässt aber keine Wünsche offen. Hier werden nicht nur auffällige Schreibungen oder Neumierungen der Leithandschrift (vgl. z.B. S. 151, Anm. 754; S. 173, Anm. 1127; S. 233, Anm. 2104), sondern auch die Lesarten der übrigen Textzeugen gründlich dokumentiert. Besonders verdienstvoll ist die akribische Verzeichnung der Marginalien aus dem Danziger Manuskript der notula.

Anders als bei der notula sind bei der correctio die Abweichungen zwischen den Textzeugen so erheblich, dass sie eine Rekonstruktion verschiedener Textstufen erlauben (vgl. S. 25 u. 36–38). Löffler konstatiert, dass die älteste Fassung aus der Stuttgarter Handschrift am ausführlichsten auf neu eingeführte oder im Festgrad veränderte Feste eingeht, während die jüngeren Ausgaben auf diese nur noch pauschal hinweisen oder punktuelle Präzisierungen bieten (vgl. S. 36). Als Herausgeberin zieht sie aus diesem Befund die einzig richtige methodische Konsequenz und entscheidet sich für eine synoptische Präsentation der Textfassungen. Berücksichtigt werden dabei freilich nur die drei handschriftlichen Überlieferungen. Denn die ab 1485 gedruckten Texte, die Löffler schon 2009 kritisch ediert hat7, teilen mit den älteren Fassungen zwar die Intention, setzen die noch handschriftlich fixierten correctiones aber durchweg als bekannt voraus und weisen deshalb zu diesen keine textlichen Übereinstimmungen auf (vgl. S. 30).

Insgesamt ist die vorliegende Edition nicht nur eine philologische Glanzleistung. Sie besticht auch durch die sachliche Aufbereitung des Stoffes. Gleichermaßen konzentrierte wie kenntnisreiche Exkurse zu den Alleluiaversen (S. 39–44), Sequenzen (S. 44–58), Hymnen (S. 58–77) und Reimoffizien (S. 77–84) helfen dem Leser bei der Durchdringung kultgeschichtlicher Zusammenhänge. Umfangreiche Indices ermöglichen darüber hinaus gezielte Recherchen zu einzelnen Chorälen und liturgischen Akteuren, Gerätschaften oder Orten (S. 491–604). Nun ist es an der – vergleichenden – Ordensforschung, das auf den ersten Blick vielleicht etwas spröde, dafür aber vorbildlich aufbereitete Quellenmaterial zum Sprechen zu bringen. Neuere, kultur- und wissensgeschichtlich ausgerichtete Studien zu den Gottesdienstordnungen einzelner Stifte oder Klöster mögen hierzu vielleicht die eine oder andere Anregung geben.8

Anmerkungen:
1 Max Perlbach (Hrsg.), Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften, Halle a. d. Saale 1890, S. 72: In divino officio per totum ordinem uniformitas observetur, quod ut commode impleri valeat, volumus, ut breviaria, que nos ordinarios dicimus, tam diurni officii, quam nocturni in singulis domibus habeantur, quorum formam et modum pretermissis aliis omnibus fratres in executione divini officii, prout poterunt, imitentur. Eine ältere Fassung ebd., S. 63, Nr. IIIa. Hier war statt von ordinarios noch von ordinaciones die Rede.
2 Den bequemsten Überblick bietet Edwin J. King, The Rules, Statutes and Customs of the Hospitallers, 1099–1310, London 1934.
3 Henri de Curzon, La Règle de Temple, Paris 1886, S. 206. Diese Vorschrift inspirierte nicht das oben zitierte Gesetz Nr. 23, sondern die Regel Nr. 8 der Deutschritter (Perlbach, Statuten, wie Anm. 1, S. 34). Anders noch: Perlbach, ebd., S. XXXVI und 72.
4 Tillmann Lohse, Die 1482 bis 1484 in Magdeburg gedruckten Ausgaben des Ordinarius Premonstratensis als Medien liturgischer Uniformierung, in: Claus-Peter Hasse / Gabriele Köster / Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Mit Bibel und Spaten. 900 Jahre Prämonstratenser. Halle a. d. Saale 2021, S. 57–73, hier S. 57 mit Anm. 2.
5 Ernst Strehlke (Hrsg.), Tabulae ordinis Theutonici, Berlin 1869, S. 357, Nr. 471. Siehe auch ebd., S. 378, Nr. 536.
6 Kaspar Elm, Die Spiritualität der geistlichen Ritterorden. Forschungsstand und Forschungsprobleme, in: Zenon Hubert Nowak (Hrsg.), Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, Torún 1993, S. 7–44, hier S. 20.
7 Anette Löffler, Die Correctio Notulae des Deutschen Ordens und ihre Überlieferung in Inkunabeln und Frühdrucken. Edition und Kommentar, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 49 (2009) S. 287–302. Zwischenzeitlich hat Löffler mit GW 523410, GW 5236, GW 5237 und VD16 B 8217 vier weitere Testimonien ausfindig gemacht, die jedoch textgeschichtlich nichts Neues bieten.
8 Louis van Tongeren / Charles M. A. Caspers (Hrsg.), Unitas in pluralitate. Libri ordinarii als Quelle für die Kulturgeschichte, Münster 2015; Jens Brückner, „Loca sanctificate, plebem benedicite“ – Stationsliturgien und Sakraltopographien in Augsburg von Bischof Ulrich († 973) bis 1620, Augsburg 2018.

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